Как дела?

„А почему?“ Aber warum? Die junge Frau, die uns gegenüber steht, seufzt und sieht uns aus müden Augen an. Es ist Herbst 2011 in Kriwoj Rog, einer 750.000-Einwohner-Stadt in der Ukraine, reichlich 450 km südlich von Kiew und 450 km westlich von Donezk. Ich habe ihr eben erzählt, dass ich vor fünfunddreißig Jahren in diesen Kindergarten gegangen bin, dessen Leiterin sie jetzt ist. Dass ich nach dieser langen Zeit die Legende in meiner Erinnerung synchronisieren will, einfach mal sehen, wie es wirklich war. Dass ich dafür aus Dresden hierher komme. Als Kind sähe doch alles anders aus, die Welt werde ja mit jedem einzeln erwachsen.
Kriwoj Rog ist für mich Kind geblieben.

Die Kriwoj Roger Metro, der Stolz der Stadt

Wir sind einen Tag zuvor mit dem Nachtzug aus Kiew angekommen. Halb sechs morgens weckte die Deschurnaja jeden Fahrgast, der aussteigen musste, mit einem Klopfen an der Abteiltür. Eben noch im Bett, wir haben wunderbar geschlafen, stehen wir eine halbe Stunde später zitternd vor dem Bahnhof an einer Art Kiosk vor der Endhaltestelle der Straßenbahn und trinken einen heißen Tee nach dem anderen. Es ist noch dunkel und recht kalt, so richtig will sich kein Plan einstellen, wie es weitergeht. Vielleicht ein Hotel finden, Rucksäcke abstellen.

Das erweist sich als erste Hürde, Touristen sind nicht vorgesehen in Kriwoj Rog. Nach langer Suche, in Deutschland recherchierte Unterkünfte sind allesamt nicht auffindbar, dürfen wir in einer ziemlich heruntergekommenen Herberge einchecken. »Ну давайте ребята!« Die Deschurnaja an der Rezeption hat nach eindringlicher Befragung, was wir denn in dieser Stadt wollen, unsere Reisepässe einbehalten und besteht auf Vorkasse. Den 500 Griwna-Schein kann sie aber nicht wechseln, weshalb sie uns mit diesen Worten in ein Magasin auf der gegenüberliegenden Straßenseite verweist. Wir sollen dort etwas essen und ihr danach das Wechselgeld bringen.

1000 kleine Dinge auf der Улица Блюхера / Blücherstraße

Das Zimmer, welches wir gerade gebucht haben, ließe ihren Befehlston nicht zu, aber man gewöhnt sich in der Ukraine daran: Wem ein noch so kleines Amt gegeben, am besten eins mit Uniform oder wenigstens Berufskleidung, der ist höhergestellt und lässt das spüren. Die Schaffnerin in der Straßenbahn, in jeder gibt es mindestens eine, weist halb Sieben morgens sitzende Mitfahrer an, »Sie da, господин, entweder sie erheben sich jetzt oder sie nehmen dieses Kind auf den Schoß!«

In der Straßenbahn. Normalerweise fährt man eher mit der Marschrutka.

Gesprochen wird Russisch, die Plakate am Zirkus und einige Ladenschilder sind in Ukrainisch gehalten. Auf den Straßen sieht man in der Regel Frauen arbeiten, nur die Marschrutkas werden von Männern gefahren. Vielleicht ist das im nahegelegenen Stahlwerk anders. Kriworoschstal hieß es früher, die Rechentechnik für die Steuerung der Walzstraßen kam von Robotron.
Wir durchstreifen ein paar Tage die Stadt, die sich wie ein überdimensionales Dorf anfühlt, kommen mit einigen Leuten ins Gespräch. Das Leben hier kostet viel Kraft, das ist den Menschen anzusehen. Ein Nachtleben scheint es nicht zu geben, vielleicht finden wir es auch nicht. Es nieselt häufig und ein kalter Wind weht durch die weiten Straßen. Der Versuch, eine Postkarte, открытка, zu kaufen, scheitert kläglich. Sowas gibt es hier nicht. Trotz allem wirkt Kriwoj Rog auf mich sympathisch.

Das Wohnheim Nr. 14 auf der Улица Домностроителей / Straße der Wohnungsbauer, dort haben wir in den 70ern gewohnt.

Die Kindergartenleiterin kann mit unserem Wunsch nichts anfangen. Ich versuche noch, ihr zu erklären, wie schön die Zeit hier in der zweiten Hälfte der Siebziger für mich war, wie kinderlieb und mit was für einer tief verwurzelten Gastfreundlichkeit die Ukrainer, die Russen, die Slawen allgemein in meinem Gedächtnis haften geblieben sind. Die Zunge stockt, obwohl ich früher fließend Russisch sprach, fehlen mir heute die Worte. Ich kann nicht mehr blumig davon schwärmen, wie sinnvoll ich mittlerweile den damaligen obligatorischen Tanzunterricht in Anzug und Kleid finde, dass ich jetzt sogar Kascha und Borschtsch esse. Wie schön alles war. Kindheit eben. »Раньше всё было лучше.« sagt die Leiterin, früher war alles besser und ich höre Trauer und unglaubliche Müdigkeit in ihrer Stimme.

Wir dürfen aus Sicherheitsgründen nur von außen ein Foto machen, seit der Geiselnahme in Beslan ist man sehr vorsichtig. In den Raum meiner ehemaligen Gruppe darf ich nicht.

Der Kindergarten. Er ist bei Weitem nicht so trostlos, wie es auf diesem Bild aussieht.